
Der Mechanismus ist seit Anfang 2021 in Kraft und in dieser Form die erste direkte Verbindung zwischen EU-Mitteln und EU-Grundwerten wie der Rechtsstaatlichkeit. Es handelt sich um ein Instrument zu Kürzung von Mitteln aus dem EU-Haushalt, wenn der Rechtsstaat in einem Mitgliedsstaat nicht mehr funktioniert und deshalb die Gefahr besteht, dass EU-Gelder veruntreut oder verschwendet werden, beispielsweise durch Korruption. Der Europäische Rat muss mit qualifizierter Mehrheit der Anwendung des Mechanismus‘ zustimmen. Qualifizierte Mehrheit heißt: 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen.

Als Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nennen das Europäische Parlament und der Rat in ihrer folgende Beispiele:
- die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz,
- das Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden einschließlich Strafverfolgungsbehörden, zu verhüten, zu korrigieren oder zu ahnden, die ihre ordnungsgemäße Arbeit beeinträchtigende Einbehaltung finanzieller und personeller Ressourcen oder das Versäumnis, sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte bestehen,
- die Einschränkung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen, auch mittels restriktiver Verfahrensvorschriften und der Nichtumsetzung von Gerichtsentscheidungen oder der Einschränkung der wirksamen Untersuchung, Verfolgung oder Ahndung von Rechtsverstößen.
Obwohl der EU-Rechtsstaatsmechanismus seit Anfang 2021 gilt, hat ihn die EU-Kommission bisher nicht angewendet. Im Europaparlament sorgt das schon lange für Unmut. Das Parlament hat die Kommission bereits im Oktober 2021 wegen Untätigkeit vor dem EuGH verklagt. Viele Abgeordnete verlangen, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach dem EuGH-Urteil zur Rechtmäßigkeit des Rechtsstaatsmechanismus nun endlich ernst macht und das Instrument gegen die „Feinde des Rechtsstaats“ in der EU einsetzt.

Die Europaparlamentarier haben dabei vor allem Ungarn und Polen im Blick. Ungarns Regierunschef Viktor Orban wird vorgeworfen dafür zu sorgen, dass Freunde und Verwandte sich mit EU-Subventionen die Taschen füllen. In Polen steht die rechtsnationale Regierung wegen ihres Vorgehens gegen die Justiz des Landes in der Kritik. Der Europaabgeordnete der Grünen, Daniel Freund, sagte gegenüber dem Dlf, mit dem Urteil des EuGH falle nun die letzte „Ausrede“ der Kommission weg: „Wir haben grassierende Korruption in Ungarn, wir haben eine Infragestellung der ganzen Rechtsordnung der Europäischen Union in Polen. Dagegen muss die Kommission jetzt endlich entschieden vorgehen.“
Doch danach sieht es nicht aus. In einer ersten Reaktion auf das Urteil teilte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit, die Kommission werde zunächst die Urteilsgründe sorgfältig analysieren und überlegen, welchen Einfluss das Urteil auf die nächsten Schritte habe. Zudem würden in den nächsten Wochen Richtlinien für die Umsetzung erarbeitet. In Brüssel heißt es, so kurz vor den Wahlen in Ungarn im April wolle die Kommission Viktor Orban bestimmt keine Munition für dessen Wahlkampf liefern.
Im Europäischen Parlament kommt das nicht gut an. Die EU-Abgeordneten sondieren bereits weitere Druckmittel gegen die Kommission – beispielsweise könnte der Haushaltsausschuss des Parlaments die Mittel für das Kabinett der Kommissionspräsidentin blockieren, das immerhin 36 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfasst.
Diese beiden bereits bestehenden Instrumente genügen aber vielen Europaabgeordneten nicht, sie halten sie für weitgehend wirkungslos. Denn obwohl es 2017 und 2018 Anhörungen im Rat gemäß Artikel 7 zu Polen und Ungarn gab, kam es nicht zu Sanktionen. Hierfür ist nämlich Einstimmigkeit der Staats- und Regierungschefs notwendig. Findet sich nur ein Staat, der das Verfahren blockiert, ist es wirkungslos. Polen und Ungarn decken sich hier gegenseitig.
Betroffene Mitgliedsstaaten könnten zudem gegen jeden Schritt des Artikel-7-Verfahrens vor dem EuGH klagen, das Verfahren könnte sich damit zu einer jahrelangen Angelegenheit entwickeln – es gilt deshalb als äußerst schwerfällig und langwierig.
Als die europäischen Verträge 1957 unterzeichnet wurden, war zunächst keine Rede davon, dass der Staatenbund eine Werteunion sein sollte. Erst langsam, vor allem gestützt auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof, entwickelte sich die Union zu einem Bündnis, das sich auf jene gemeinsamen Werte beruft, die heute in Artikel 2 des EU-Vertrags aufgelistet sind, unter anderem die Rechtsstaatlichkeit. Als 2004 die große EU-Erweiterung nach Osten und Süden kam, mussten alle Neumitglieder diesen Wertekanon akzeptieren und in ihr nationales Recht einbauen.
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
Viele EU-Politiker wünschen sich ein wirksames Instrument, um auch die Demontage anderer Grundwerte als Rechtsstaatlichkeit zu verhindern.
Quellen: EU-Parlament, Peter Kapern, Paul Vorreiter, Arte, Peter Kapern, og, nin